Haltung. Ein Wort, das meine Oma früher benutzte. Ein Wort, das sich für mich vor allem so anhörte: „… da muss du eben durch…!“ Disziplin, Durchhaltevermögen, Gefühle wegdrücken und weiter geht´s. Der Kriegs- und Nachkriegsgeneration meiner Oma hat diese Art von „Haltung“ sicher geholfen, um zu überleben. Heute sehe ich Haltung vor allem als innere Freiheit, als etwas, das ich selbst entscheiden und beeinflussen kann.

Wie auch immer sich ein anderer mir gegenüber benimmt, meine Freiheit ist meine Haltung. Wenn jemand mich angreift, kann ich entscheiden, ob ich den Angriff erwidern will. Verbal, körperlich, direkt oder hintenrum. Meine Haltung ist für mich wie ein roter Faden durchs Leben. Und ich kann mich jederzeit entscheiden. Meckern oder loben, jammern oder aktiv werden, zuhören oder reden.

Wenn ich mir vorstelle, dass ich all die anderen außerhalb meines eigenen Lebens verändern müsste, damit ich mich besser fühlen kann, hätte ich sehr viel zu tun. Wahrscheinlich würde mein Leben dafür gar nicht reichen. Was ich aber auf jeden Fall beeinflussen und damit ändern kann, ist meine eigene, innere Haltung. Der „andere“ kann ja sein wie er will – rüde, laut, egoistisch, erfolgreich, attraktiv, beliebt und so weiter …… die Liste kann endlos sein – mit meiner Haltung entscheide ich, wie ich damit umgehe. Nur ich!

Ein Beispiel

Dazu eine Idee mit einem Beispiel: Eine langjährige Freundin fährt mich plötzlich an: ich würde immer auf ihr rumhacken, sie immer kritisieren. Die Wucht, mit der der Ausbruch kommt, haut mich echt um. Unser beider Partner schauen sich erst mal geschockt an, dann uns zu. Ich entscheide mich ruhig zu bleiben, sie reden zu lassen, ihr Raum zu geben. Mir fällt ein Satz des US-amerikanischen Psychologen Rollo May ein:

„Freiheit ist die Fähigkeit, eine Pause zu machen zwischen Auslöser und Reaktion“

Bingo. Genau das mache ich. 15 Jahre Beziehung. Mit viel Lachen, vielen Gemeinsamkeiten und viel Vertrauen. Und jetzt von einem Moment auf den anderen – BANG! Niemand sagt, dass ich sofort reagieren muss! Vielleicht habe ich ja etwas gesagt, was bei meinem Gegenüber eine solche Reaktion ausgelöst hat? Vielleicht hat sie aber auch etwas ganz anderes gehört. Ich frage noch ein wenig nach, merke aber, ich komme nicht mehr zu ihr durch. Weiter insistieren bringt also nichts. Besonders dann, wenn Gefühle hochkochen. Also entscheide ich mich, dem zu vertrauen, was ich in diesem Augenblick wahrnehme. Besonders auf der Gefühlsebene. Sie ist schneller, als mein Verstand. Der braucht Zeit zur Analyse. Mein Gefühl spüre sofort – im Körper. Wissenschaftlich nachgewiesen und sehr spannend nachzulesen beim Psychologieprofessor Julius Kuhl und der Psychologieprofessorin Maja Storch.

Körpersignale wahrnehmen und zulassen

In mir selbst spüre ich den Faustschlag im Magen und ein Gefühl von Schuld kriecht in mir hoch. Mein Verstand ist erst mal ratlos. Bei ihr sehe ich Zeichen der Wut. Schütteln mit dem Kopf, Lippen aufeinander gepresst, rote Flecken am Hals, ein von mir abgewandter Blick. Für mich sieht sie so aus, als ob sie sofort weg will. Weg aus der Situation. Bloß weg von mir. Ich frage sie: „Du willst wahrscheinlich jetzt gehen?“ Es bricht aus ihr raus: „JA!“ Also gut. Wir zahlen. Die Eskalation lösen wir auf, indem wir uns räumlich aus dem Ort des Geschehens bewegen.

Bewegung physisch bewegt auch Herz und Hirn

Noch viele Stunden danach – wir sind längst in verschiedenen Richtungen unterwegs – versuche ich zu verstehen, was den Ausschlag für die Eskalation gegeben haben könnte. Noch am selben Tag entscheide ich mich, die „Trennung“ nicht so stehen zu lassen und auch nicht auf eine Reaktion von ihr zu warten. Warten ist für mich nur die Zeit, die ich brauche, um zu entscheiden, was ich weiter tun kann. Also beschließe ich selbst aktiv zu werden und ihr einen Brief zu schreiben. Ergebnis offen. Wann ich ihn abschicke, auch. Wichtig für mich ist nur, dass ich ihr gegenüber eine Haltung einnehme, die repektvoll ist. Denn meine Freundin bleibt meine Freundin, auch wenn sie sich für einen anderen weg entscheidet. Das ist ihre Freitheit und ihre Verantwortung.

Selbst entscheiden, selbst handeln, selbst loslassen

Egal, wie die weitere Entwicklung sein würde. Ob es noch einmal eine Beziehung geben würde oder nicht. Mir war wichtig, nicht so abruppt aus einer Beziehung zu gehen, die 15 Jahre Wertschätzung, Vertrauen und Offenheit erlebt hat. Ich stellte mir positive Ereignisse mit ihr vor, die ich erinnerte – beim Sport, beim Essen, bei Familienfesten. Und es kam sehr viel Positives. Das habe ich genutzt, um meinen Brief an sie so zu formulieren, dass er meine Dankbarkeit und Wertschätzung für die Jahre der Freundschaft, die gemeinsamen Unternehmungen und sie als engagierte Persönlichkeit ausdrückte. Beim Schreiben habe ich mir immer wieder gesagt: es ist meine Haltung, die entscheidet. Für mich! Für meinen Frieden! Dann habe ich losgelassen und ihn abgeschickt.

Als ich mit Freunden vorher darüber sprach, fragte mich jemand: „Warum schickst du überhaupt einen Brief?“ Das kann ich sagen: Weil ich für mich Frieden machen will. Und weil ich daran glaube, mit dem Brief einen Raum zu schaffen, in den meine Freundin treten kann, wenn sie dazu bereit ist.

Das Ende der Geschichte:

Für mich hat sich meine Haltung gelohnt. Warum? Weil ich mir Frieden gegeben habe. Weil ich die Verantwortung für ihr Handeln bei ihr gelassen habe. Weil ich auch mir Raum gegeben habe, mich mit Respekt und Wertschätzung erst mal zu verabschieden und ihr den Raum, den sie inzwischen genutzt hat, um wieder auf mich zugehen zu können. Vor allem aber, weil meine Haltung mir selbst Freiheit gibt.